Ernst Breidenbach
Gregor Willmes im FonoForum 3 / 2001


Das einzigartige Duo


Ernst Breidenbach und Johannes Matthias Michel arbeiten seit 1995 als Duo zusammen. „Wir haben uns bei Konzerten mit Neuer Musik in Frankfurt kennen gelernt. Der Kantor dort, Reinhold Finkbeiner, hat Klavier und Harmonium in kleineren Ensembles eingesetzt. Danach sind wir zum ersten Mal bei einem Karg-Elert-Symposium in Eberbach als Duo aufgetreten“, erinnert sich der Pianist Ernst Breidenbach. Seitdem spielen die beiden regelmäßig zusammen, haben gemeinsam auch schon drei hervorragende CD´s mit Werken von Karg-Elert, Saint-Saëns, Franck, Widor und soeben Alexandre Guilmant eingespielt. Konzerte geben sie allerdings selten. Denn wenn die beiden auf Reisen gehen, fangen die Probleme an: Ein Kunstharmonium kann kaum ein Veranstalter stellen. Andererseits passt das Instrument nicht in den Kofferraum: „Es ist so schwer wie ein kleines Klavier, aber das Gehäuse ist etwas größer. Das muss man schon von einer Klavierspedition transportieren lassen. Und das ist natürlich ein Kostenfaktor bei einem Konzert“, sagt Johannes Matthias Michel. Eine weitere Schwierigkeit ist, den richtigen Flügel zu beschaffen. „Bei einem großen Steinway wird es schwer sein, eine gute Balance zu finden“, meint Ernst Breidenbach. „Man muss bei der Klangbalance natürlich bedenken, dass das Repertoire in etwa mit einem Erard-Flügel von 1860 gespielt wurde“, ergänzt Michel, „und die sind natürlich im Volumen und der Laustärke anders als die heutigen Instrumente. Und der sehr weitgriffe Klaviersatz, den Ernst zu bewältigen hat, entfacht eine enorme Klangwirkung auf einem modernen Flügel. Dann stimmt die Balance zum Kunstharmonium nicht mehr, obwohl es eigentlich kein leises Instrument ist.“

Hat man endlich die richtigen Instrumente beisammen, kommt der Klavierstimmer zum Zug: „Die Kunstharmonien stehen bedeutend tiefer als die heutige Konzertstimmung. Also müssen die Instrumente vor Auftritten regelmäßig auf etwa 439 Herz heruntergestimmt werden, das ist sehr aufwendig“, so Breidenbach. Zumal der Veranstalter den Flügel ja nach dem Duo-Konzert wieder raufstimmen lassen muss. Bei all diesen Problemen ist es wohl kein Wunder, dass das Duo Breidenbach / Michel seine Bekanntheit vor allem CD´s verdankt. Dabei erwecken der Pianist und der Kirchenmusiker Repertoire zum Leben, das ansonsten wohl fast vollständig vergessen wäre ­ so wie lange Zeit das Kunstharmonium.

Wie funktioniert eigentlich ein Kunstharmonium? „Beim Harmonium wird der Klang durch eine durchschlagende oder so genannte frei schwingende Zunge erzeugt. Das Prinzip kennt man vom Akkordeon oder auch von der Mundharmonika. Da die Zungen bei steigendem Luftdruck ihre Tonhöhen nicht verändern, kann man den Luftdruck beliebig verändern, so dass der Ton je nach Druck lauter oder auch wieder leiser wird. Das heißt, man hat ein Tasteninstrument in der Hand, mit dem man einen Ton, nachdem man ihn angeschlagen hat, noch weiter formieren kann, zum Beispiel die Lautstärke ­ bis hin zu Vibrato und Akzenten. Im Grunde ist es eine Imitation der menschlichen Stimme auf einem Tasteninstrument. Das ist einmalig.“

In der Regel besitzt ein Kunstharmonium ein oder zwei Manuale und ungefähr 600 Zungen, verteilt auf fünf Register in der Basshälfte und acht in der Diskanthälfte ­ denn beim Harmonium ist die Tastatur geteilt, so dass man in der rechten Hand andere Register spielen kann als in der linken. Die Luftzufuhr wird durch zwei Tretschemel gesteuert. Anfang des 19. Jahrhunderts wurden die ersten Harmonien gebaut. Alexandre-François Debain (1809 – 1877) erreichte um 1840 eine erste Vollendung des Druckluftharmoniums, indem er beispielsweise die Teilung des Manuals in Bass- und Diskanthälfte einführte oder die „Expression“ entwickelte, einen Mechanismus, der eine große Nuancierung des Winddrucks und somit auch der Lautstärke gestatte. Es war jedoch dem ebenfalls aus Frankreich stammenden Instrumentenbauer Victor Mustel (1815 – 1890) vorbehalten, dem Instrument den letzten Feinschliff zu geben: Das „Harmonium d¹Art“ verdankt Mustel viel.

In Frankreich schrieben Hector Berlioz und Camille Saint Saëns für das Instrument, oft auch Organisten wie César Franck, Charles-Marie Widor oder Alexandre Guilmant. „Der Zusammenhang ist klar, weil das Instrument in Frankreich orgue expressif, also ausdrucksvolle Orgel, genannt wird“, erklärt Johannes Matthias Michel, „und weil es dort auch als kleine Orgel angesehen wurde, im Chor einer großen Kathedrale oder in einer kleinen Kapelle aufgestellt. Viele Werke sind im 19. Jahrhundert von vornherein alternativ für Orgel oder Druckluftharmonium eingerichtet worden.“ Andere Stücke, wie César Francks bekanntes Meisterwerk Prélude, Fugue, Variation op. 18, gab es in Fassungen für Orgel wie für Harmonium-Klavier-Duo. Im deutschsprachigen Raum schrieben Komponisten wie Franz Liszt, Max Reger, Richard Strauss (Salome), Alexander von Zemlinsky (Lyrische Symphonie) und Arnold Schönberg für das Harmonium. August Reinhard, der neben vielen Werken für das Instrument auch eine Harmonium-Schule verfasste, wird gern als der König des Harmoniums bezeichnet. Als der bedeutendste deutsche Komponist für Kunstharmonium gilt allerdings Sigfrid Karg-Elert.

Karg-Elert (1877 – 1933) ist vor allem Organisten ein Begriff, weil er sein bedeutendstes 'ouvre für das Pfeifeninstrument geschrieben hat. „Das Gesamtwerk für Orgel würde 19 CD´s füllen. Ich habe einmal für eine große, weltbekannte Schallplattenfirma eine Aufstellung gemacht. Das Projekt ist aber bisher nicht realisiert worden“, sagt Johannes Matthias Michel, der zu den kenntnisreichsten Fürsprechern des in Oberndorf am Neckar geborenen und in Leipzig ausgebildeten Komponisten zählt. Schon früh setzte sich Michel für Karg-Elert ein: „Ich war damals ein junger Student von 22 Jahren, frech wie Oskar und habe gesagt: ,Wir müssen eine Karg-Elert-Gesellschaft gründen. Damals war ich noch der Meinung, Karg-Elert sei die Nummer eins unter den Kleinmeistern jener Zeit. Inszwischen habe ich gelernt, dass er doch wahrscheinlich nicht in das Feld der Kleinmeister gehört, sondern in seiner Bedeutung weit darüber steht.“

Auch auf die Frage, warum Karg-Elert denn trotzdem heute so wenig bekannt ist, hält Michel eine einleuchtende Antwort bereit: „Zum einen müssen Sie sich vorstellen, dass Karg-Elert einen ,internationalen Kompositionsstil hatte. Das hebt ihn zwar, wenn man ihn in eine Reihe stellt mit Schrecker, Schönberg u.a.
nicht hervor. Aber dann, wenn Sie mal weiter darunter schauen, unter den Komponisten im deutschen Raum für Kammermusik, aber auch für Klavier- und Orgelmusik. Seine Werke hatten schon englische und französische Titel zu einer Zeit, als man ihn in diesen Ländern noch gar nicht verlegte oder auch nur kannte. Er hat in seinem Stil Aspekte des Komponierens von Debussy, Scriabin, ein bisschen sogar von Gershwin aufgenommen. In seiner Jugend aber auch von Edvard Grieg. Das ist der deutschen Musikszene schon sehr früh aufgefallen. Und er wurde deshalb auch sehr früh, nämlich 1917, in Publikationen als „Kosmopolit“ denunziert. Das setzte sich dann fort in den 20er Jahren, als rechtsradikale Musikpublikationen ihn zusammen mit Schreker und Schönberg aufzählten als ,uns aufgezwungene Neutöner. Schließlich mündete das Ganze darin, dass er 1933, in dem Jahr als er starb, in ein Verzeichnis der Juden in der Musik aufgenommen wurde, obwohl er gar kein Jude war. Er sah nur so aus, wie sich die Nazis einen Juden vorstellten: Er war skurril gekleidet, hatte interessante Frisuren, eine auffällige Erscheinung.“

Auch innermusikalische Gründe führt Michel an, warum Karg-Elert lange nicht die Rolle spielte, die ihm zustehe: „Er hat in seinem Stil eine Art Postimpressionismus entwickelt, der in Deutschland durch den Bruch, der auch in der Ästehtik stattfand, insbesondere in der Kirchenmusik, ausgelöst etwa durch die Singbewegung und die Orgelbewegung, nicht nur völlig uninteressant, sondern im Gegenteil gerade das Zerrbild dessen war, das die Vertreter dieser Richtungen haben wollten. Das alles führt in der Summe dazu, dass man eigentlich nach dem zweiten Weltkrieg mit ganz wenigen Ausnahmen seine Musik nicht mehr spielte. Zwischen 1940 und 1970 war für Karg-Elert in der Musik fast Sendepause.“ Danach setzte langsam eine Karg-Elert-Renaissance auf Seiten der Organisten ein. Und es ist wohl auch kein Zufall, dass der Organist Johannes Matthias Michel ausgerechnet über Karg-Elert zum Kunstharmonium gefunden hat. „Mir ist der Komponist vertraut gewesen, eben über seine Orgelwerke, und ich habe auch schon sehr früh Kunstharmonium-Noten von Karg-Elertschen Stücken besessen und mich immer gefragt, wie das wohl klingen mag. Denn mir ist aufgefallen, dass diese Musik weder auf der Orgel, noch auf dem Klavier richtig klingt. Und aufgrund der Registerangaben und der ganzen Satzweise konnte man auch sehen, dass hier etwas nicht stimmt. Deshalb war ich immer neugierig, das mal im Original zu hören.“

Karg-Elert ließ sich von dem Berliner Verleger und Harmonium-Spezialisten Carl Simon zu einem gewaltigen 'ouvre für das Kunstharmonium ermuntern. Und Johannes Matthias Michel hat für das Label cpo eine Gesamteinspielung in Angriff genommen, die bereits bis zum Volume vier gekommen ist. Auf den insgesamt fünf CD´s finden sich vor allem hinreißende romantisch-impressionistische Charakterstücke wie die Impressionen op. 102, die Miniaturen op. 9, die Aquarellen op. 27, die Portraits op. 101 oder die Sensibilismen und Expressionismen, die den harmonischen Raum in die

Atonalität öffnen. Michel hat aber auch drei wunderbar elegant, unglaublich „französisch“ anmutende Sonatinen vorgelegt, außerdem eine ganze CD prall gefüllt mit Wagner-Transkriptionen ­ von „Rienzi“ bis zur „Götterdämmerung“. „Es gibt Legionen von solchen Übertragungen“, erklärt er. „Man muss bedenken, dass die Originalliteratur für Harmonium nicht sehr groß war. Auch wenn es viele Komponisten, meistens Kleinmeister, gegeben hat, die dafür geschrieben haben. So war doch ein großer Nachholbedarf da. Außerdem wollte das Harmonium-Publikum natürlich Meisterwerke spielen. Und am beliebtesten waren Bach und Wagner. Es mag uns heute ein bisschen kurios anmuten ­ ausgerechnet diese beiden Komponisten, aber das führte so weit, dass eine bedeutende Harmonium-Baufirma eine ganze Serie von einem Modell aufgelegt hat, das ,Bach-Wagner hieß.“ Bach meint Michel, würde sich ja eigentlich für fast alle Instrumente und Besetzungen eigenen. „Und diese Wagnersche Musik kommt auch dem Instrument am ehesten entgegen. Ich versuche das immer in der Hypothese zuzuspitzen, dass Wagner eigentlich Originlamusik fürs Harmonium ist. Nicht, weil er dafür geschrieben hat, sondern weil das Harmonium eigentlich dem Ideal Wagners ­ seiner Vorstellung von der unendlichen Melodie, dieses ständige Auf- und Abschwellen und dieser süffigen Harmonik ­ ganz nahe ist.“

Dass das Duo Breidenbach / Michel nicht nur am Instrument, sondern auch darüber hinaus gut funktionert, kann man unter anderem daran ablesen, dass Ernst Breidenbach ebenfalls für cpo eine mehrteilige Einspielung der Klavierwerke Karg-Elerts begonnen hat. Das erste Volume feierte Michael Stenger im März 2000 im Fono Forum als „Entdeckung eines Verfemten“. Stengers Fazit lautete: „In all diesen Stücken spürt man, dass Sigfrid Karg-Elert zwar kein kompositorischer Draufgänger war, aber ein versierter Pianist gewesen sein muss. Ernst Breidenbach widmet sich ihnen konzentriert und zeigt Sinn für Valeurs, für Brechungen, aber auch für die große Geste.“
Nach dem erfolgreichen Einstand darf man sich nun auf Volume zwei freuen, das Ende April erscheint.

Natürlich haben sich Breidenbach und Michel auch Karg-Elerts Duos für Harmonium und Klavier angenommen. Und hier - wie auch im französischen Repertoire - kommt der besondere Reiz ihrer Besetzung voll zum Tragen: Wunderbar mischen sich die „Streicherklänge“ des Kunstharmoniums mit den eher glockigen Klaviertönen. Herrlich der Kontrast zwischen den ruhig fließenden Harmonium-Harmonien und dem stärker perkussiven Klavierpart. Es ist erstaunlich, wie überzeugend diese doch so verschiedenen Instrumente miteinander harmonieren. Man muss sich nur die abwechslungsreichen hübschen Silhouetten op. 29 Karg-Elerts anhören, um zu erkennen, welchen Verlust die Musikwelt mit dem Untergang des Kunstharmoniums erlitten hat. Denn das Kunstharmonium war um 1920 gleich einem Saurier zum Aussterben verurteilt. Einerseits waren nach der Orgelbewegung und dem Stilwandel zur Neuen Sachlichkeit die expressiven, romantischen und impressionistischen Töne des Druckluftharmoniums nicht mehr so gefragt. Andererseits machte ihm das Saugluftharmonium den Garaus. „Der Blick auf die guten Instrumente, die Kunstharmonien, war zu dieser Zeit schon deutlich durch Saugluftinstrumente verstellt“, so Michel. Saugluftharmonien wurden seit Ende des 19. Jahrhunderts millionenfach in Amerika und Deutschland gebaut. Sie besaßen eine andere Windversorgung, waren leichter herzustellen, leichter zu transportieren und viel billger. Schließlich kostete ein Kunstharmonium je nach Ausführung im heutigen Geldwert zwischen 80.000 und 100.000 Mark. Die massenhaft produzierten Saugluftinstrumente waren allerdings viel leiser als Kunstharmonien und besaßen auch nicht dieselben Möglichkeiten, den Ton zu gestalten. Sie dienten vielfach als Orgelersatz, was zu dem bösen Satz führte: „Wo ein Harmonium ist, da ist auch eine Sekte.“ Das Ergebnis klang oft schauderhaft: „Sie müssen sich vorstellen, dass diese meistens unter künstlerischen Gesichtspunkten nicht hochwertigen Instrumente auch noch von Laien gespielt wurden, die in der Mitte des Instrumentes einen vierstimmigen Choral spielten. Und das ist nun mal klanglich das Schlechteste, das man auf solchen Zungeninstrumenten machen kann“, meint Johannes Matthias Michel. „Da kann nichts anderes herauskommen als so ein Heilsarmee-Gewimmer, wie man es aus manchen amerikanischen Filmen kennt. Und das hat sicherlich dazu beigetragen, dass sich die meisten seriösen Komponisten nach 1920 nie wieder mit dem Harmonium beschäftigt haben.“ Heute werden keine neuen Kunstharmonien mehr gebaut. Sammler und Fans wie Johannes Matthias Michel restaurieren und widmen sich liebevoll den übrig gebliebenen historischen Instrumenten. Als gelte es, die letzten Saurier zu retten. Doch wenn Michel solo oder mit Ernst Breidenbach im Duo Werke aus der französischen Schule oder von Karg-Elert spielt, dann bekommen Zuhörer schon mal aus rein musikalischen Gründen leuchtende Augen ­ ohne, dass im Fernsehen dazu eine Hochzeitskapelle gezeigt wird.